Biologische Transformation

Nachhaltige industrielle Wertschöpfung durch Nutzung bio­logischer Prinzipien, Systeme und biotechnologischer Verfahren

Ausgehend von der Chemie und Physik an Grenzflächen wurde das Technologiespektrum des Fraunhofer IGB bereits Mitte der 1970er Jahre durch die Bioverfahrenstechnik erweitert. Mit dem Aufbau der molekularen Biotechnologie beherrscht das Institut heute eine umfangeiche Palette verschiedenster biotechnischer Methoden und biologischer Systeme – von bioinspirierten Materialien und dem Einsatz von Nukleinsäuren, Enzymen und Viren, über Mikroorganismen und humane Zelllinien bis zu Gewebe- und Organmodellen. Die Konvergenz biotechnologischer Verfahren mit physikalisch-chemischen Methoden der Grenzflächenverfahrenstechnik ist einzigartig in der Fraunhofer-Gesellschaft. Sie befähigt das Institut, in interdisziplinären Ansätzen Prinzipien aus der Biologie in technische Anwendungen zu überführen, biotechnologische Prozesse und biobasierte Materialien zu entwickeln sowie bioinspirierte und biointelligente Wertschöpfungsketten für unterschiedliche Branchen zu etablieren.

Mensch und DNA-Stränge.
© PopTika/shutterstock
Mensch und DNA-Stränge.

Menschen wurden zu allen Zeiten zur Anwendung biologischer Prozesse inspiriert, lange bevor die hochkomplexen biologischen Systeme wie die Organismen, mit denen heute Proteinwirkstoffe, Vitamine und Enzyme hergestellt werden, überhaupt als »Produktionssysteme« identifiziert wurden. Die Bandbreite reicht von der Nutzung von Gärungsprozessen zur Haltbarmachung von Lebensmitteln über die Nachahmung und Anwendung pflanzlicher Interaktion am Beispiel von Pilzen und Algen im »Produktionssystem« Flechten bis hin zu komplexen biotechnologischen Verfahren zur Herstellung von Pharmaprodukten, Lebensmittelzusatzstoffen und chemischen Grundstoffen auf Basis biogener Rohstoffe.


Ziel der Biologie als Kerndisziplin der Lebenswissenschaften ist es, Prinzipien, Strukturen und Systeme der belebten Natur und ihrer Funktionen zu erfassen, zu untersuchen und zu verstehen. Das Verständnis biologischer Prozesse, vor allem auch auf molekularbiologischer Ebene, sowie die Entdeckung und Anwendung neuer molekularbiologischer Werkzeuge ermöglichen, neben der klassischen Bioverfahrenstechnik, die direkte Übertragung der Erkenntnisse in die industrielle Anwendung – in Medizin, Umweltschutz, Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Chemie. Damit tragen sie wesentlich zum Schutz unserer Lebensgrundlagen und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft bei.

Die wachsende Weltbevölkerung, der Klimawandel, Inseln aus Plastikmüll im Meer, Mikroschadstoffe im Trinkwasser und viele weitere globale Herausforderungen schärfen das Bewusstsein für die elementaren Grundlagen und ökologischen Zusammenhänge unseres Planeten und die Notwendigkeit, ökologische und nachhaltige Produktionsprozesse zu entwickeln, möglichst ohne die Basis unseres Wohlstands einzuschränken. Dadurch ergibt sich u. a. die Nachfrage nach Materialien, die nicht nur aus CO2-neutralen Ausgangsstoffen hergestellt, sondern auch über die natürlichen Stoffkreisläufe abgebaut oder durch innovative Recyclingverfahren wieder für neue Produktionszyklen zur Verfügung gestellt werden. Für rohstoff- und energieeffiziente Produktionsverfahren in Wertstoffkreisläufen (Smart Cities), natürliche Nahrungsmittel aus einer umweltverträglichen Landwirtschaft, sauberes Trinkwasser für alle oder neuartige Therapieverfahren ermöglichen die verschiedenen Facetten der Biotechnologie Lösungen und erlauben den Wandel zu einer »biologisierten« Wirtschaft. Das Fraunhofer IGB gestaltet diesen Wandel aktiv mit.

Nachhaltige Wertschöpfung durch »Biologische Transformation«

Pusteblumen mit Wassertropfen.
© Mikhail hoboton Popov / shutterstock
Pusteblumen mit Wassertropfen.

Die »Biologische Transformation« hat längst begonnen. Wie die »Digitale Transformation«, die durch das Internet und die Nutzung von Smart Phones aus dem Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken ist, hat sie mit neuen biologischen Wirkstoffen die Medizin und mit dem Systemansatz der Bioökonomie, den wir aufgrund seiner großen Bedeutung für die Forschungsstrategie des Instituts an anderer Stelle separat betrachten, auch die Art des Produzierens verändert. Vor allem im Zusammenspiel mit den digitalen Technologien und künstlicher Intelligenz einerseits und dem Ineinandergreifen von Lebens-, Material- und Produktionswissenschaften andererseits werden zukünftig weitreichende Neuerungen möglich werden. Als Beispiel sind selbstlernende Systeme denkbar, deren Lernprozesse durch die Nachbildung von Prozessen echter Zellen in Kombination mit digitalen Algorithmen gesteuert werden und Einsatz in der Herstellung völlig neuer Produkte finden.

Nach der Definition der Fraunhofer-Gesellschaft macht sich die biologische Transformation Prinzipien, Materialien und Strukturen der belebten Natur zunutze. Diese sind nicht zwangsläufig mit dem Einsatz biologischer Systeme (Zellen, Gewebe) – als der höchsten Integrationsstufe – gleichbedeutend. Vielmehr können die Produktionssysteme der Zukunft die Prinzipien der Biologie bzw. ihre Materialien und Strukturen auch imitieren und adaptieren. Das heißt, die Produktion der Zukunft hat von der Natur bzw. ihren Prinzipien und Prozessen gelernt und wendet diese für biotechnologisch hergestellte Pharmaka und eine »biologisierte Medizin« oder – im Falle anderer Sektoren – im Sinne natürlicher Stoffkreisläufe an.

IGB: Vorreiter und Keyplayer der biologischen Transformation

Ausgehend vom gesellschaftlichen Mehrwert neuer und nachhaltiger Produkte bei gleichzeitigem Erhalt von Funktionalität und Qualität fokussiert das IGB seine Arbeiten seit mehr als 40 Jahren auf die Entwicklung biotechnologischer Prozesse und biobasierter Produkte, die unter anderem in den Branchen Medizin, Pharmazie und Diagnostik, Lebensmittelverarbeitung, Chemie und erneuerbare Energie Anwendung finden. Dabei wurden am IGB schon frühzeitig industrielle Wertschöpfung und Umweltaspekte als Lösung für nachhaltiges Wirtschaften miteinander verknüpft.

Mit seinem Engagement im Innovationsprozess der biologischen Transformation greift das Institut aktiv die Herausforderungen einer biologisierten medizinischen Versorgung der Menschen auf und führt einzelne Wertschöpfungsketten – »vom Rohstoff zum Produkt«, die »Natur als chemische Fabrik«, »Nexus Wasser, Ernährung und Energie« – zu gesamtheitlichen Wertschöpfungskreisläufen für die Produktionssysteme der Zukunft zusammen. Auf welche Fülle das Institut hierbei zurückgreift, wird anhand der nachfolgend ausgewählten Beispiele für die verschiedenen biologischen »Systemebenen« aufgezeigt.

Im »Wasserhaus« im Neubaugebiet »Am Römerweg« in Knittlingen sind Regenwasseraufbereitung, Vakuumstation und Abwasserreinigungsanlage untergebracht.

Das Handwerkszeug – Molekularbiologie und Bioverfahrenstechnik als Grundlage der Wertschöpfung

Biologische Systeme bestehen aus einzelnen oder einer Vielzahl von Zellen, die sich durch in Regelkreisen organisierten Metabolismen und Abläufen vervielfältigen und in komplex strukturierten Netzwerken interagieren. Das Verständnis dieser intrazellulären (Metabolismus) wie auch extrazellulären (Zelldifferenzierung im Organismus) Steuer- und Regelmechanismen ist ein essenzielles Handwerkszeug für die Entwicklung effektiver Mikroorganismen, nicht nur zur Produktion von Enzymen oder Biopolymeren, sondern auch zur Entwicklung von Medikamenten, die gestörte zelluläre Steuer- und Regelmechanismen ausgleichen. Beispiele hierfür sind die Gabe von Insulin bei Diabetes oder hochindividuelle Therapien wie die CAR-T-Zelltherapie bei Tumorerkrankungen.


Von der Erkennung auf molekularer Ebene...


Unter anderem mit der Entwicklung und Anwendung innovativer Verfahren im Bereich der Hochdurchsatzsequenzierung (Next-Generation Sequencing) trägt das IGB zur Entschlüsselung dieser Netzwerke und Regelmechanismen bei. Damit wird am IGB die Grundlage zur Identifizierung von Biomarkern für die personalisierte Diagnostik verschiedener Erkrankungen, zur molekularen Analyse von Infektionsprozessen oder zur Charakterisierung von Mikroorganismen für die industrielle Biotechnologie gelegt. Darüber hinaus setzt das Institut diese Technologie ein, um komplexe mikrobielle Metagenome und -transkriptome für die Diagnostik wie auch für die Umweltbiotechnologie zu erfassen. So werden auf der Grundlage dieser Erkenntnisse neue Produktionsorganismen für biobasierte Chemikalien oder schadstoffabbauende Mikroorganismen identifiziert und nachfolgend über molekularbiologische Methoden optimiert.


...bis zur Stoffumwandlung mit Bioverfahrenstechnik


Als weiteres Kernelement der biologischen Transformation befasst sich die Bioverfahrenstechnik mit der Entwicklung, Modellierung, Operation und Skalierung biotechnischer Prozesse, um diese in die industrielle Praxis umzusetzen. Hierbei gilt es zum einen, die optimalen Kultivierungsbedingungen für den gezielten Aufbau von Produkten oder Abbau von Schadstoffen durch die Organismen einzustellen. Neben der Stoffwandlung integriert das IGB zudem die passenden Aufschluss-, Extraktions- oder Aufreinigungsverfahren in den Prozess. Unsere Maxime dabei ist, über die gesamte Prozesskette hinweg die maximale Stoff- und Energieeffizienz sowie Produktqualität zu erreichen.

Für die verschiedenen Aufgabenstellungen entwickeln wir daher auch spezifische Reaktorsysteme, beispielsweise Membranreaktoren zur Immobilisierung von Enzymen oder Bioreaktorsysteme, mit denen die hydraulische Verweilzeit von der Biomasseverweilzeit entkoppelt und damit die Raum-Zeit-Ausbeute erhöht werden kann.

Die komplexen Regelmechanismen innerhalb und außerhalb der Zellen erfordern zudem eine umfassende Mess- und Regeltechnik des Gesamtsystems. Die Integration von künstlicher Intelligenz in die genannten Systeme wird sowohl eine Prozessintensivierung als auch eine beschleunigte Adaption an sich schnell ändernde Gegebenheiten ermöglichen.

Systemebenen der biologischen Transformation am IGB

Organismen sind hochkomplexe Systeme und mit einem höchsten Grad an Organisation, oder anders ausgedrückt thermodynamischer Ordnung, ausgestattet. Sie bestehen aus Zellen, Organellen und funktionellen Molekülen, die selbst ebenfalls komplex strukturiert und untereinander durch vielfältige Wechselwirkungen verknüpft sind. In biologischen Systemen ist jede neue Hierarchiestufe durch Eigenschaften charakterisiert, die zuvor noch nicht vorhanden waren und die neu entstehende Strukturebene stets mehr als die Summe der einzelnen Komponenten.

Bioinspirierte Materialien und biologisierte Oberflächen

Gelatine-basierte Biotinte mit angepasster Viskosität.
© Fraunhofer IGB
Gelatine-basierte Biotinte mit angepasster Viskosität.

Überall dort, wo Materialien in Kontakt mit biologischen Systemen kommen, spielen die Eigenschaften der Materialien und ihre Wechselwirkung mit der physiologischen Umgebung eine entscheidende Rolle. Bei Medizinprodukten liegt für uns die Wechselwirkung an der Grenzfläche zwischen dem technischen und dem biologischen System im Fokus. Je nach Zielstellung verändern wir die Oberfläche des eingesetzten Materials so, dass die Funktion der biologischen Komponente nicht nur nicht beeinträchtigt (biokompatibel), sondern in vielen Fällen sogar unterstützt wird (bioaktiv). Je nachdem, ob die Grenzflächen aneinanderhaften sollen (Implantate) oder gegeneinander bewegt werden (Gelenke), sind über die chemischen Eigenschaften hinaus auch adäquate mechanische Eigenschaften gefordert, die den Verbund stabilisieren.

Zur Optimierung der mechanischen Eigenschaften kommt die dritte Dimension ins Spiel. Aus der zweidimensionalen Grenzfläche wird eine dreidimensionale Grenzphase. Für diesen Fall hat die Natur spezielle Materialien mit ungewöhnlichen mechanischen Eigenschaften entwickelt und kombiniert. Ein Beispiel etwa sind Gelenke. Mit seinen besonderen viskoelastischen Eigenschaften sorgt der Gelenkknorpel, zusammen mit der Synovialflüssigkeit bzw. ihrer definierten Viskosität, dafür, dass Gelenke auch unter stärkerer mechanischer und intermittierender Belastung ihre Funktion erfüllen können. Derartige Systeme in die Technik umzusetzen, erfordert noch einiges an grundlegender Forschung. Der Knorpel beispielsweise ist bezüglich seiner mechanischen Eigenschaften anisotrop aufgebaut. Diese Herausforderung gehen wir mit speziellen Drucktechniken unter Einsatz von am IGB entwickelten »Biotinten« an.


Neue Materialien aus der Matrix von Geweben, bioinspirierte Strukturen und biofunktionale oder biologisierte Oberflächen werden so in Zukunft dafür sorgen, dass medizintechnische Hilfsmittel, Prothesen und Implantate besser verträglich sind. Mit Materialien, welche die biochemischen und mechanischen Eigenschaften von natürlichen Geweben nachbilden, können Irritationen im Organismus minimiert und die Haltbarkeit medizintechnischer Produkte verlängert werden: In Zukunft werden Materialien zur Verfügung stehen, die vollständig vom Körper integriert werden können und dadurch patientengerecht und gleichzeitig kostengünstig sind.

Enzyme – Spezifische Umsetzung unter milden Bedingungen

Die Katalysatoren biologischer Zellen sind Enzyme, Proteine, die sämtliche chemische Reaktionen im Stoffwechsel bewerkstelligen. Enzyme haben zahlreiche Alltagsbereiche des Menschen erobert, von Waschmitteln, über Shampoo bis Zahnpasta. Als Sensoren messen sie zuverlässig Schadstoffe und helfen bei der Bestimmung des Blutzuckergehalts von Diabetikern. Biokatalysatoren sind hochspezifisch in Bezug auf das umgesetzte Substrat und lassen sich auch zur Herstellung chemisch schwer zugänglicher Verbindungen einsetzen. Die biokatalytisch hergestellten Produkte sind, aufgrund dieser Spezifität, von hoher Reinheit – Nebenprodukte entstehen nicht.

Das IGB setzt Enzymreaktionen für eigene Entwicklungen ein, stellt neue Enzyme aber auch im Kundenauftrag her. Die Entwicklung beginnt mit dem Screening geeigneter Enzyme, z. B. in Bodenproben oder in Sequenz-Datenbanken. Sind Kandidaten gefunden, werden Bakterien oder Hefen für die effiziente Herstellung der Enzyme eingesetzt und die Kultivierung vom Labor- bis in den Technikumsmaßstab optimiert.

Fermentation und Biokatalyse.
Fermentation und Biokatalyse.

Big Data der Biologie – Massendaten durch DNA-Sequenzierung

Sepsis-Diagnostik.
© Fraunhofer IGB
Automatisierte Aufarbeitung klinischer Proben für die Next-Generation-Sequencing-Diagnostik.

Dauerte die Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Humangenomprojekt noch über 10 Jahre, werden heute, dank neuer und wesentlich schnellerer Sequenzierverfahren für DNA, den sogenannten Hochdurchsatz- oder Next-Generation-Sequenzierverfahren, ganze Organismen innerhalb von Tagen oder Stunden sequenziert. Diese rasante Entwicklung macht eine Menge an Daten zugänglich, welche die Analyse komplexer biologischer Systeme in nie dagewesener Art und Weise erlaubt. Dies reicht vom Verständnis der zellulären Kommunikation in komplexen Organismen bis hin zur Analyse biologischer Netzwerke in mikrobiellen Gemeinschaften, sogenannten Mikrobiomen. Für die Analyse und Auswertung dieser komplexen Datenmengen können zukünftig Plattformen maschinellen Lernens (künstliche Intelligenz) wie künstliche neuronale Netzwerke eingesetzt werden, um das Verständnis komplexer biochemischer Vorgänge in Zellen und Organismen und das Auffinden von Biomarkern für die Diagnostik und Therapie weiter zu beschleunigen.

Die metagenomweite Datenanalyse hat auch völlig neue Möglichkeiten bei der Diagnose von Erkrankungen geschaffen. Das IGB nutzt diese Möglichkeiten, um neue Verfahren für die NGS-basierte Diagnostik zu entwickeln. Sowohl Verfahren für die Aufbereitung von Patientenproben wie auch neue bioinformatische Methoden wurden entwickelt, um aus Sequenzdaten einer Blutprobe zum Beispiel genetische Identifikationsmerkmale zu bestimmen, mit denen Mikroorganismen eindeutig als Erreger von Infektionskrankheiten diagnostiziert werden können. Da auch Resistenzen über Gene festgeschrieben sind, erlaubt die Hochdurchsatzsequenzierung es sogar, in der gleichen Analyse nicht nur die biologische Art des Erregers, sondern auch dessen Resistenzgene – und damit einen weiteren Ansatzpunkt für die jeweils optimale Therapie – zu identifizieren. Patientennutzen und Kostenreduktion gehen hier Hand in Hand.

Viren – nicht-zelluläre Partikel als biointelligente Werkzeuge

Virus-Aktivitätstest
© Fraunhofer IGB
Mit Virus-Infektionstests, z. B. einem Plaque- oder TCID50-Assay, untersuchen die Fraunhofer-Forschenden, ob die Luft nach der Inaktivierung noch infektiöse und damit übertragbare Viren enthält.

Viren sind streng genommen keine Lebewesen. Sie werden als Organismen „at the edge of life“ bezeichnet, denn sie bewegen sich zwischen zwei Welten: Einerseits existieren sie in menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Zellen und können sich nur durch sie vermehren; andererseits führen sie ein Dasein auch unabhängig von ihren Wirten. Molekular betrachtet sind Viren kleinste Proteinkapseln, welche die eigene Erbinformation, die bei der Infektion in die gekaperte Wirtszelle eingeschleust wird, umschließen.

Wie Viren auf effiziente Weise Lebewesen infizieren und sich dadurch verbreiten, nutzen Virologen und Molekularbiologen – auch wir am Fraunhofer IGB – für die Entwicklung von Impfstoffen und Zell- und Gentherapeutika, beispielsweise zur Behandlung von Krebserkrankungen. Mittels viralem Genom-Engineering optimieren wir hierzu ausgewählte Funktionen des Virus, bzw. des infizierten Organismus, und statten Viren mit neuen Eigenschaften aus. Ebenso können so veränderte Viren Aufgaben in technischen Prozessen und in biointelligenten Regelkreisen erfüllen, etwa als Sensoren oder virale Schalter.

Auch bei der Bekämpfung von Bakterien bzw. zur Heilung bakterieller Infektionen setzen wir auf spezielle Viren, die Bakteriophagen – abgekürzt Phagen. In Zeiten, da viele unserer Antibiotika nahezu wirkungslos geworden sind, stellen sie eine effektive Alternative zur Bekämpfung antibiotikaresistenter Erreger dar. Dass Phagen wirklich gezielt Bakterien zerstören können, haben wir bereits beispielhaft für Karieserreger gezeigt.

Die Zelle als Produktionssystem

Mikroorganismen sind für die Produktion biobasierter Chemikalien oder für die Lebensmittelherstellung besonders gut geeignet, da sie sich unter Verwendung biogener Nährstoffe sehr schnell vermehren können und damit nachhaltig hochproduktiv sind. Insbesondere höhere Mikroorganismen wie Pilze oder Algen verfügen über eine Vielzahl von metabolischen Netzwerken, welche Stoffwechselprodukte generieren, die für uns nutzbar sind. Das Penicillin gehört zu den wichtigsten von Pilzen produzierten Produkten, aber auch Basismoleküle für Polymere (Bernsteinsäure, Äpfelsäure, Itakonsäure) oder Biotenside für die Anwendung als Detergenzien, Emulgatoren oder als Wirkstoffe in Kosmetika und Pflanzenschutz können als biobasierte Chemikalien aus Pilzen und anderen Mikroorganismen gewonnen werden, wie wir am IGB gezeigt haben.

Häufig gelingt es, Mikroorganismen durch Selektionsverfahren ohne gentechnische Veränderung zu einer verstärkten Herstellung des gewünschten Stoffes zu bringen. Oft müssen jedoch die metabolischen Netzwerke so verändert werden, dass Moleküle, die normalerweise vom Organismus anders genutzt werden, in den gewünschten Stoff umgewandelt werden (Metabolic Engineering).

In vielen Fällen werden auch komplett neue Stoffwechselwege in den Organismus eingepflanzt. Dies ist beispielsweise bei der Herstellung von Enzymen, aber auch für Pharmaproteine in Säugerzelllinien der Fall. Säugerzelllinien sind zwar viel empfindlicher als Mikroorganismen, durch ihre Ähnlichkeit zu menschlichen Zellen bilden diese, im Gegensatz zu Mikroorganismen, die meisten der gewünschten Proteine mit vergleichbaren Modifikationen wie der Mensch. Dies erhöht deren Wirksamkeit dramatisch. Mit unserer molekularbiologischen Expertise in der Veränderung von Mikroorganismen und der rekombinanten Herstellung von Proteinen in Säugerzellen tragen wir so, durch Erkennung und Veränderung metabolischer Netzwerke, zur biotechnischen Herstellung von biobasierten Chemikalien bei wie auch zur Herstellung von therapeutischen Proteinen.

Mikroalge Haematococcus pluvialis unter dem Mikroskop. Vegetatives (Palmella-)Stadium.

Humane Gewebe- und Organmodelle für aussagekräftige präklinische Tests

© Fraunhofer IGB
Retina-on-a-chip.

Gewebe und Organe bestehen aus verschiedenen differenzierten Zellen, die über zelluläre Kommunikations- und Regelmechanismen jeweils spezifische Funktionen für eine gemeinsame Aufgabe übernehmen. Um diese Mechanismen verstehen und in einem handhabbaren System abbilden zu können, bauen wir Modelle humaner Gewebe und Organe im Labor nach, mit denen die menschliche Physiologie und deren Krankheiten wesentlich besser als im Tiermodell nachgebildet werden können.

Komplexe, aus humanen Zellen aufgebaute Modelle enthalten auch Komponenten des Immunsystems und wir nutzen sie als Testsysteme zur Entwicklung und Evaluierung neuer Pharmazeutika. Mit 3D-Gewebemodellen können auch Testsysteme mit gestörten Steuer- und Regelmechanismen aufgebaut werden (z. B. aus Patienten-Biopsien oder über gezielt veränderte menschliche Zellen), an denen Wirkstoffe die diese Störung ausgleichen validiert werden können.

Die Kultivierung der kleinsten funktionellen Einheit eines Organs in künstliche mikrofluidische Systeme, sogenannte Organ-on-a-Chip-Systeme, ist eine weitere neue Technologie zur Bereitstellung aussagekräftiger Testsysteme für die Arzneimittelentwicklung. Das IGB baut solche Organchips aus humanen induziert pluripotenten Stammzellen auf. Diese hiPS-Zellen lassen sich gezielt differenzieren, sodass auch Gewebe gewonnen werden, die sich nicht aus primären Biopsien isolieren lassen. Da die Zellen des Organ-Chips im mikrophysiologischen System auf Arzneimittelkandidaten so reagieren, wie dies auch im menschlichen Organismus der Fall wäre, können mit ihnen Wirkstoffe, die im Tierversuch nicht evaluierbar sind, untersucht – und Tierversuche vermehrt ersetzt werden.

Rückgewinnung und Wiederverwendung – Stoffkreisläufe nach dem Vorbild der Natur

Abfälle entstehen in der belebten Natur nicht. Im biologischen Kreislauf bilden Pflanzen und Mikroalgen aus Kohlenstoffdioxid und anorganischen Nährstoffen wie Stickstoff, Phosphor und Schwefel mittels Fotosynthese organische Substanz, die über die Nahrungsketten anderen Organismen zum Aufbau ihrer Biomasse dient. Über die Atmung und den mikrobiellen Abbau abgestorbener organischer Substanz stehen am Ende wieder CO2 und Nährstoffe für neue Biosynthesezyklen zur Verfügung.

Die IGB-Forschung auf der Systemebene »Umwelt« orientiert sich an den natürlichen, vom Menschen nicht beeinflussten bzw. gestörten Stoffkreisläufen. So ist das Ziel bei unseren Konzepten zur Aufbereitung von Abwasser, Inhaltsstoffe in einer verwertbaren Form zurückzugewinnen. In unserem Systemansatz »Semi-dezentrales integriertes Wassermanagement« nutzen wir anaerobe Mikroorganismen, um die im Abwasser vorhandene Organik zu Biogas umzusetzen. Die verbleibenden Nährstoffe können in pflanzenverfügbarer Form gefällt oder, mit dem gereinigten Wasser, zur düngenden Bewässerung genutzt werden.

Neben den heute in der westlichen Zivilisation üblichen Abwasserreinigungsanlagen, bei denen Nährstoffe in nicht recyclingfähiger Form entsorgt, anstatt zur Rückführung in den biologischen Kreislauf aufbereitet werden, ist es vor allem die industrielle Landwirtschaft, die den natürlichen Kreisläufen Nährstoffe entzieht. Mit der Ernte der Pflanzen werden die Nährstoffe aus dem Agrarökosystem entfernt, eine Rückführung findet kaum statt. Dies macht die Zufuhr synthetischer Düngemittel notwendig. Mit neuen patentierten Technologien setzen wir auf die Rückgewinnung von Nährstoffen aus Abwasser und Gülle, Gärresten und Reststoffen der Lebensmittelindustrie und auf eine Landwirtschaft, die sich an natürlichen Stoffkreisläufen orientiert.

Kreislauf.
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Kreislauf.